19.06.2015

 

Es ist vier Uhr nachmittags und ich langweile mich daheim zu Tode, da ich diese Woche keine Arbeit habe. Das kommt daher, dass das Micro in der Werkstatt ist und das Wetter viel zu eisig, um auf der Camionetta auf der Ladefläche mitfahren zu können (das ist übrigens die Meinung meiner Chefin, meiner Gastmutter und aller Bolivianer, nicht meine.). Also verbringe ich die Tage gemütlich zuhause, schlafe aus und gehe eben abends zum Tanzen und mit meinen drei weiteren Musketierfreunden Luisa Chaly und Oscar fast immer nach dem Tanzen noch was Essen oder einen Film gucken oder feiern oder was auch immer.

 

Mir bleiben hier gerade mal noch etwas weniger als 20 Tage, bevor wir für eine Nacht nach La Paz müssen und dann den Heimflug antreten. Meine Gefühle dem gegenüber sind fast durchgehend Angst vor der Zukunft, Melancholie und dem Schmerz, all das hier zurücklassen zu müssen. Am Montag war die Tanzshow, bei der Steven am Schluss noch eine kleine Rede über uns Chocas gehalten hat, die mich letztendlich dann doch tatsöchlich auf der Bühne zum Heulen gebracht hat - und ich heule nun wirklich nicht schnell vor anderen Leuten. Unsere Lieben aus der Tanzschule haben uns ein süßes Tshirt geschenkt, auf dem vorne ein bolivientypisches Motiv zu sehen ist und auf der Rückseite steht Apasionarte - Escuela de Danza, Bolivia. Aber wie soll das reichen als Ersatz für Freunde wie die, die ich in der Tanzschule gewonnen habe? Und nicht nur die, auch Luisa, die in diesem Jahr definitiv zu einer meiner allerbesten Freundinnen geworden ist, werde ich in Deutschland viel zu selten sehen, weil sie in Hannover wohnt und weiß Gott wo studieren wird. Überhaupt, studieren, die Bewerbungsfristen laufen schon und ich bin mir immer noch nicht sicher, was ich eigentlich machen will. Irgendwie passt einiges, aber nichts zu 100%. Wie schön wäre es, das Leben das ich hier habe, so fast ohne Verantwortung, fast ohne Stress einfach noch ein Jahr weiter zu führen. Natürlich geht das nicht. Natürlich freue ich mich darauf, meine Familie wieder in die Arme schließen zu können. Natürlich will ich meine Freunde - jedenfalls die, zu denen ich in dem Jahr trotzdem Kontakt hatte - wiedersehen. Aber der Schmerz überwiegt bei weitem und endlich weiß ich einen einzigen Grund, warum man Leute davor warnen sollte, ins Ausland zu gehen: Macht es nicht, denn ihr müsst da irgendwann wieder weg und das wird weh tun.

 

Macht es natürlich trotzdem. Weil... weil alle Erfahrungen, die ich gemcht habe. Alle Freundschaften. Alles. Es ist so viel, dass es unmöglich in Worte zu fassen ist. Ich finde ja nicht einmal die Bilder und Filme, die ich auf dem PC habe, aussagekräftig genug. Es ist das was in mir, in meinem Herzen und in meinen Gedanken passiert ist, was den Unterschied macht. Und das kann man nicht beschreiben, man kann es nur fühlen.



Vom Vermissen und Verabschieden - 07.07.15


Der Tag, der niemals kommen sollte, ist da. Der letzte. Das Ende meines Jahres. Der Koffer ist gepackt, sogar das Handgepäck ist schon einigermaßen fertig. Gestern war ich mit meiner Familie in der Ventura Mall beim Abendessen und danach bowlen, sozusagen ein Abschiedsabend mit allen. Heute gehen wir noch mit den Leuten aus der Tanzschule Essen und schon morgen Mittag hebt der Flieger nach La Paz ab.

In den letzten Tagen haben sich die lieben Worte, die man von allen Seiten zu hören bekommt, nochmal verdreifacht, sodass ich das Gefühl habe, halb Bolivien hält mein Herz fest, während mein Körper leider zurück muss. Eine weise Frau namens Miriam Adeney meinte dazu:


"You will never be completely at home again, because part of your heart will always be elsewhere. That is the price you pay for the richness of loving and knowing people in more than one place."


...was es absolut auf den Punkt bringt, finde ich.

Das, was mich weiteratmen lässt, ist das, was zuhause in Deutschland auf mich wartet: Mama, Papa, Marisa. Opa und Oma. Laura, Lizzy, Nici und Ronja, und die Freunde, die mich nach dem Jahr noch nicht vergessen haben. Meine -Pfotenrettlerinnen. Peter. Irene. Und so eine Verrückte, die alle Flugdaten schon vor meinem Vater weiß und meinen ganzen Blog auswendig gelernt hat. Die jetzt bestimmt innerhalb von zwei Stunden Papa Bescheid gibt, dass wieder ein neuer Eintrag da ist. ;-)

Ich will mal versuchen, zu erklären, wie es sich für mich angefühlt hat, ein Jahr von all diesen Personen getrennt gewesen zu sein. Natürlich war es schrecklich. Aber es war auch absolut okay. Fühlt sich ein bisschen an wie Selbstständigkeit. Für ein Mädchen, das maximal drei Wochen am Stück von den Eltern getrennt war, wenn es mit den besten Freunden verreist ist, ist es eine große Sache. Anfangs. Aber durch Technologien wie Whatsapp und Skype reicht beinahe schon das Wissen, dass man sie theoretisch jederzeit erreichen könnte, um sich nah zu fühlen. Und nah sind sie mir sowieso, denn ich weiß, selbst wenn ich vom Nordpol eine Brieftaube schicken würde, käme Papa schnellstmöglich zu mir, um mir zu helfen. Marisa nicht, dazu müsste sie ja in einen Flieger steigen. Aber der Wille zählt, und dass der da ist, weiß ich auch bei ihr mit 100prozentiger Sicherheit, genau wie bei einigen anderen Menschen, deren Präsenz in meinem Leben mir immer die Kraft und die Sicherheit gibt, genau das zu tun, was ich gerade möchte, selbst wenn es 10.000km entfernt von zuhause ist.

Daher muss ich ehrlich zugeben: nein, ich habe sie nicht so sehr vermisst, wie ich dachte. Manchmal gab es diese Tage, wo ich mir dachte, eine Umarmung von einem dieser Menschen sei jetzt hilfreich. Aber ein Tag, an dem ich mit Überzeugung gesagt habe, ich wäre jetzt lieber dort bei ihnen statt hier, den gab es nicht.

Trotzdem. (Und nun kommt wieder der Teil, für den sich Mama nachher beschwert, dass sie wieder Heulen musste:) jetzt gegen Ende, wo ich versucht habe, mich auch auf zuhause zu freuen, hat das irgendwie sogar geklappt, manchmal. Hauptsächlich dann, wenn Papa und Mama mir über Skype zugelächelt haben. Genau dieses Lächeln, bei dem ich weiß, dass theoretisch auf genau dieses Lächeln eine feste Umarmung folgen müsste, war das, was mir die Tränen in die Augen getrieben hat und erstmals der Gedanke durch meinen Kopf schoss - jetzt bei ihnen sein, das wär doch gar nicht so schlimm.


Versteht mich nicht falsch, jetzt, am letzten Tag, genau 24 Stunden bevor mein Flieger abhebt, könnten sie mir dreißig Mal zulächeln und ich würde trotzdem hier bleiben wollen.

Aber es hilft. Und ich freu` mich auf euch, denn ich hab euch echt lieb.